Wenn der Schlafmangel einen um den Schlaf bringt …

Der 14. März 2022 | Nachrichten

Wenn der Schlafmangel einen um den Schlaf bringt …

Katerina Espa Cervena - Psychiaterin und medizinische Leiterin des Cenas.

Ein Drittel der Bevölkerung lebt nachweislich mit zu wenig Schlaf. Und der Rest stresst sich, weil er dem Schlaf dauernd hinterherrennt. Ist das jetzt schlimm? Geht es nach Dr. Katerina Espa Cervena, Spezialistin für Psychiatrie und leitende Ärztin am Zentrum für Schlafmedizin CENAS in Genf, so soll man den Schlafmangel zwar ernst nehmen, aber ohne ihn zwanghaft zu bekämpfen. Denn wer dem Schlaf zu sehr nachjage, drohe ihn erst recht zu verlieren … Eine Begegnung.

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Ist es richtig, dass nicht jeder Mensch gleich viel Schlaf braucht ?

Ja, der individuelle Schlafbedarf im Erwachsenenalter ist nämlich genetisch bedingt. Für Leute, die wenig schlafen, reichen fünf Stunden pro Nacht völlig aus. Langschläfer hingegen benötigen neun Stunden. Solche Menschen können bei siebeneinhalb Stunden durchaus Schlafentzugs-Symptome verspüren.

Welche Bevölkerungsschichten sind am anfälligsten auf Schlafmangel ?

Der Schlafbedarf variiert je nach Bevölkerungsgruppe. So ist zum Beispiel für jemanden, der nicht mehr berufstätig ist, ein chronisches Schlafmanko weniger gravierend als für einen Jugendlichen. Die empfohlene Schlafdauer bis zum 18. Lebensjahr beträgt 9,25 Stunden. Man muss allerdings auch erwähnen, dass Personen in diesem Alter selten so lange schlafen; lässt man den frühen Unterrichtsbeginn ausser Acht, und auch wenn sie früh zu Bett gehen, gönnen sie sich nur schwerlich genügend Schlaf. Kommt hinzu, dass sie vor dem Zubettgehen zu lange am Bildschirm hängen und dadurch noch später einschlafen. Ein Grossteil der Jugendlichen hat also ein Schlafmanko und ist eindeutig die gefährdetste Bevölkerungsgruppe. Es ist erwiesen, dass ein solches Manko in dieser intensiven Hirnwachstumsphase zu einer Verschlechterung der schulischen Leistungen und zu Verhaltensstörungen führen kann.

Wie merkt man, ob man genug schläft ?

Sofern Ihr Schlaf-Wach-Rhythmus nicht gestört ist und Sie sich völlig gesund fühlen, dann ändern Sie nichts an Ihren Schlafgewohnheiten! Fühlen Sie sich hingegen tagsüber matt, dann sollten Sie herausfinden, ob Sie womöglich an Schlaflosigkeit oder Schlafmangel leiden.

Was ist der Unterschied zwischen Schlaflosigkeit und Schlafmangel ?

Man muss grundsätzlich unterscheiden zwischen Schlaflosigkeit und Schlafentzug. Zwar wirkt sich beides gleich auf unseren Alltag aus, doch sind die Wege, die wieder zu besserem Schlaf führen, nicht dieselben. Beim Schlafentzug gibt Ihr Körper oder Ihr Gehirn Ihrem Organismus nicht die Möglichkeit, so viel Schlaf zu erhalten, wie er benötigt. Von Schlafentzug spricht man, wenn Sie zum Beispiel zu viel arbeiten oder es mit Ihren Freizeitaktivitäten übertreiben und sich also selbst nicht genug Schlaf gönnen. Die Schlaflosigkeit hingegen ist eine unverschuldete krankhafte Störung; Sie haben zum Beispiel Mühe einzuschlafen oder durchzuschlafen und wachen zu früh auf. Natürlich ist es gut, sich deswegen in Behandlung zu begeben, doch gleichen Sie das Manko zu einem guten Teil am Morgen wieder aus, wenn Sie nur unter erschwertem Einschlafen leiden. Dann gibt es da noch weitere Störungen wie Schlafapnoe, Hypersomnie (erhöhter Schlafbedarf tagsüber), Restless-Legs-Syndrom (unruhige Beine) oder Parasomnie (Schlafwandeln, Alpträume …).

"MAN MUSS WISSEN, DASS SICH MIT FORTSCHREITENDEM ALTER NICHT NUR UNSER BEDARF AN SCHLAF ÄNDERT, SONDERN AUCH « DESSEN ARCHITEKTUR », ALSO SEINE QUALITÄT."
— Katerina Espa Cervena - Psychiaterin und medizinische Leiterin des Cenas

Wenn man sich ständig müde fühlt, ab wann sollte man zum Arzt gehen ?

Wenn Sie über längere Zeit, sagen wir mehr als drei Monate, schlecht einschlafen oder mehr als dreimal pro Woche Mühe haben durchzuschlafen, oder wenn Sie sich während des Tages übermässig müde oder eingeschränkt leistungsfähig fühlen, dann wäre ein Arztbesuch angezeigt. Teilweise können organische Beschwerden vorliegen, zum Beispiel der Schilddrüse. Wenn das nicht hilft, kann eine Schlafklinik in einer noch umfassenderen Untersuchung Ihre verschiedenen Schlafphasen analysieren und Ihnen dann entsprechende Behandlungen vorschlagen. Doch wenn Sie nicht zu den Personen gehören, die bereits unter gesundheitlichen Problemen leiden, welche sich auf ihren Schlaf auswirken, dann können Sie Ihre Schlafqualität verbessern, indem Sie ganz einfach besser auf Ihren Organismus hören und ihm geben, was er braucht.

Wie kann man sich selbst besseren Schlaf antrainieren ?

Zuerst sollten Sie festlegen, wie viel Schlaf Sie wirklich benötigen; ganz intuitiv finden Sie zum Beispiel, dass Ihnen acht Stunden im Durchschnitt genügen. Sorgen Sie nun dafür, dass Sie sich diese Idealdauer pro Tag auch gönnen. Und halten Sie sich ab zwei Stunden vor dem Zubettgehen von Bildschirmen fern und vermeiden Sie anregende Tätigkeiten. Biologisch ausgedrückt, muss nämlich die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin zwei Stunden vor dem Einschlafen einsetzen. Möchten Sie trotzdem noch etwas fernsehen, weil Sie das entspannt, tun Sie es, aber mit einer Brille, welche den Blauanteil des Lichts herausfiltert. Achtung auch bei der Ernährung: Meiden Sie zu spätes und zu fettes Essen, denn auch das ist dem Einschlafen abträglich.

Kann auch ein komfortables Bett den Schlaf verbessern ?

Ja, der Schlafkomfort ist sehr wichtig. Die Matratzenwahl ist dabei völlig individuell. Ehepartner haben nicht immer dieselben Komfortvorstellungen; in solchen Fällen braucht es unterschiedliche Matratzen. Auch kann eine unpassende Matratze, die nicht genügend stützt, bereits vorhandene Symptome noch verstärken (Rücken-, Nackenschmerzen) und so den Schlaf stören. Doch auch ohne Vorerkrankung kann eine unbequeme und nicht auf den Anwender angepasste Matratze (zu «weich» oder zu «fest») den Schlaf stören und zu kleinen und kleinsten Schlafunterbrechungen führen. Der thermische Komfort der Bettwaren spielt ebenfalls eine grosse Rolle; so sollte die Matratze die Feuchtigkeit entweichen lassen, um nächtliches Schwitzen zu verhindern.

Wie wirkt sich Schlafmangel auf unsere Psyche aus ?

Heute gilt es als gesichert, dass die Schlaflosigkeit das Risiko für depressive Beschwerden verdoppelt.

Gemäss Ihrer Aussage entwickelt sich der Schlaf im Verlauf des Lebens weiter.

Genau. Man muss wissen, dass nicht nur unser Bedarf an Schlaf, sondern auch «dessen Architektur», d.h. Qualität, sich mit fortschreitendem Alter ändert. Physiologisch betrachtet, werden die Tiefschlafphasen kürzer. Ich stelle in meinen Sprechstunden regelmässig fest, dass die Leute bei der Einschätzung ihres Schlafbedarfs in die Vergangenheit schauen. Sie zielen also auf eine Schlafdauer im AHV-Alter ab, die Sie gar nicht mehr benötigen werden.

Für Apple-Chef Tim Cook ist der Schlaf «etwas für Loser». Auch verschiedene andere Topmanager streichen ihre kurzen Nächte heraus, um ihren Erfolg zu erklären. Kann man nicht dem Schlaf Zeit abtrotzen und dadurch mehr leisten?

Man kann nicht, nur weil man es so will, die eigenen körperlichen Bedürfnisse verändern! Der circadiane Rhythmus (der Schlaf-Wach-Rhythmus, der den Tagesablauf der meisten Tiere und Pflanzen regelt) ist nun einmal grösstenteils eine Tatsache. Wir können nicht anders als mal mehr, mal weniger aktiv sein. Man sollte das Schlafen nicht mit dem Faulsein gleichstellen; wir brauchen es, um uns zu regenerieren.

Was riskiert man, wenn man nicht genug schläft ?

Es tut einem wirklich überhaupt nicht gut. Das Reaktionsvermögen geht deutlich zurück und das Unfallrisiko nimmt zu. Ebenso sind die kognitiven Fähigkeiten betroffen. Wer sich seinen körperlichen Bedürfnissen verweigert, schränkt damit seine Gedächtnisleistung ein. Man ist also dauerhaft weniger aufnahmefähig, als man eigentlich sein könnte. Ich jedenfalls würde nie jemandem empfehlen, weniger zu schlafen, um leistungsfähiger zu werden!

Früher kamen manchmal Patienten zu Ihnen, um weniger schlafen zu können. Das ist heute nicht mehr so. Woher dieser Sinneswandel?

Die Menschen werden sich immer bewusster, wie wichtig es ist, gut zu schlafen, und welche schwerwiegenden Folgen schlechter Schlaf für ihre Gesundheit haben kann. Früher fragten Patienten mich zum Beispiel zu den Schlafphasen aus, damit sie sich dann medikamentös wachhalten konnten; solche Anfragen haben komplett aufgehört. Heute heisst es eher: Wie kann ich meine Müdigkeit bekämpfen und meine Leistungsfähigkeit steigern?

Häuft sich der Schlafmangel wirklich an, oder genügen ein paar «normale» Nächte hintereinander, um das Gleichgewicht wiederherzustellen?

Wenn Sie chronisch zu wenig schlafen, häuft sich das Manko an. Jedoch sind unser Gehirn und unser Organismus sehr gut darin, sich zu regenerieren. Eine Studie hat aufgezeigt, dass sich Probanden nach elftägigem Schlafentzug in nur drei Nächten wieder erholten.

Was halten Sie von Melatonin-Hormonen, um wieder schlafen zu können ?

Man muss unterscheiden zwischen der Einnahme gemäss ärztlicher Empfehlung und der Selbstmedikation. Seit ein paar Jahren ist Melatonin in der EU frei erhältlich, in der Schweiz hingegen immer noch nur auf Rezept. Melatonin ist ein sehr wirksames Hormon mit sehr wenigen Nebenwirkungen. Nimmt man es allerdings ein, ohne auf den natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus zu achten, kann es kontraproduktiv sein. Auf jeden Fall muss seiner Einnahme eine ärztliche Untersuchung der «inneren Uhr» vorausgehen.

Es sind immer mehr technische Hilfsmittel zur Überwachung des Schlafs auf dem Markt. Taugen diese «Sleep Techs» etwas?

Viele dieser «Gadgets» versuchen, anhand der Analyse der Schlafphasen zu berechnen, wie gut man schläft. Allerdings geht dies nur, wenn man dafür Elektroden am Kopf befestigt. Einige meiner Patienten kommen zu mir und zeigen mir ihre Schlafphasen, so wie sie ihre Smartwatch aufgezeichnet hat. Doch diese zeichnet nur die Bewegungen oder deren Fehlen auf; das lässt noch keine Rückschlüsse darauf zu, in welcher Schlafphase der Patient sich jeweils befunden hat. Andere Geräte messen den Herzrhythmus; doch auch der liefert nur vage Resultate. Es gibt auch Technologien mit Sensoren, die feststellen, ob jemand schnarcht, wodurch man auf gewisse Beschwerden schliessen kann. Dann gibt es «vernetzte» Matratzen; diese können bei der Behandlung von Schlafapnoe helfen, indem sie die schlafende Person vorübergehend anheben, sobald sich eine Schnarchphase ankündigt.

Aber setzt man mit der Jagd nach dem Schlaf diesen nicht erst recht aufs Spiel ?

Ja. Denn nun besteht das Risiko der Orthosomnie, einer immer weiter verbreiteten Störung, die eng mit diesen vernetzten Gadgets zu tun hat. Es ist die Obsession, gut schlafen zu können. Der Name entstand im Sommer 2017, als die sogenannten Schlaftracker populär wurden, und lehnt sich an an die Orthorexie an, den Zwang, sich gesund zu ernähren. Doch erinnern wir uns: Man kann den Schlaf nicht willentlich beeinflussen, das kann und tut einzig das Gehirn. Was wir aber können, ist, unser Verhalten zu ändern, ein wenig gesunden Menschenverstand walten zu lassen, und dann geht es unserem Schlaf oft schon viel besser. Und in den anderen Fällen gilt es einfach ein wenig Ruhe zu bewahren; wer neue Ängste schürt, verdirbt sich nur erst recht den Schlaf und schafft eine neue, pervertierte Suche nach noch mehr Leistung …

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